Unterschied zwischen „Vertretenmüssen“ und „Verschulden“

Heute betrachten wir eine Formulierung in der JuS 2012, 43 (46f) von Christoph H. Seibt und Simon Schwarz:

Ein Schadensersatzanspruch setzt ein Verschulden des Verkäufers voraus, dessen Vorliegen grundsätzlich vermutet wird, § 280 I 2.

In dem zitierten § 280 I BGB steht:

(1) Verletzt der Schuldner eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis, so kann der Gläubiger Ersatz des hierdurch entstehenden Schadens verlangen. Dies gilt nicht, wenn der Schuldner die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat.

FischWir sehen: Seibt/Schwarz schreiben, dass ein Schadensersatzanspruch ein Verschulden des Verkäufers voraussetzt. In § 280 I 2 BGB ist aber von Vertretenmüssen die Rede. Können wir diese beiden Begriffe synonym verwenden oder gibt es einen Unterschied?

Dazu Wolf-Dietrich Walker in der Ad Legendum 2015 auf Seite 109:

§ 280 I macht die Schadensersatzpflicht vom „Vertretenmüssen“ des Schuldners abhängig, § 823 I davon, dass eine Rechts- oder Rechtsgutverletzung vorsätzlich oder fahrlässig erfolgt ist. Verschulden, Vertretenmüssen und Vorsatz oder Fahrlässigkeit stehen in folgendem Verhältnis zueinander: Der Oberbegriff ist das Vertretenmüssen. Der Schuldner soll nur für solche Pflichtverletzungen ersatzpflichtig sein, die er zu vertreten hat, für die er die Verantwortung trägt. Nach § 276 I hat er grundsätzlich Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten. […] Vorsatz und Fahrlässigkeit sind zwei Formen des Verschuldens. Dass § 280 I (ebenso wie § 311a) nicht unmittelbar an Vorsatz oder Fahrlässigkeit anknüpft, hängt damit zusammen, dass nach § 276 ausnahmsweise eine strengere oder mildere Haftung bestimmt sein oder sich aus dem Inhalt des Schuldverhältnisses ergeben kann. Der Schuldner kann eine Pflichtverletzung also auch ohne Verschulden zu vertreten haben […].

Anhand des letztes Satzes erkennen wir bereits, dass die Formulierung „Ein Schadensersatzanspruch setzt ein Verschulden des Verkäufers voraus“ falsch ist. Das Verhältnis zwischen den Begriffen „Vertretenmüssen“ und „Verschulden“ kann man sich am besten graphisch einprägen:

 

Vertretenmüssen

Jetzt stellt sich nur noch die Frage nach einem Beispiel für eine mildere bzw eine strengere Haftung.

Mildere Haftung:

§ 599 Haftung des Verleihers

Der Verleiher hat nur Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten.

Strengere Haftung:

§ 287 Verantwortlichkeit während des Verzugs

Der Schuldner hat während des Verzugs jede Fahrlässigkeit zu vertreten. Er haftet wegen der Leistung auch für Zufall, es sei denn, dass der Schaden auch bei rechtzeitiger Leistung eingetreten sein würde.

13 comments

  1. Leonie sagt:

    Super erklärt! Ich hab das nie vernünftig auseinander bekommen. Nun fühle ich mich viel sicherer bei dem Prüfungspunkt Vertretenmüssen. Danke!

  2. Jonas Portwich sagt:

    Das ist einfach eine geile Darstellung und in den Google-Ergebnissen sogar ganz oben. Chapeau!

  3. Oskar sagt:

    Sehr schön! Einzig hinzufügen könnte man zur Verdeutlichung eventuell noch, dass auch fremdes Verschulden durch Zurechnung (bspw. über § 278) zu eigenem Vertretenmüssen führen kann. Dieser Gedanke macht das Verhältnis von Vertretenmüssen und Versdchulden eventuell noch klarer!

  4. Melissa sagt:

    Vielen Dank für die tolle Erklärung!

  5. Daniel sagt:

    Hallo, das Beispiel milderer Haftung finde ich unpassend. Zwar greift leichte Fahrlässigkeit nicht, aber grobe und Vorsatz. Beides fällt als Teilmenge strenggenommen unter die Klammer „Verschulden“ und steht gerade nicht außerhalb dessen.
    Zur strengen Haftung kann bereits auf den § 276 selbst verwiesen werden. Die Garantie fällt zB darunter.

    Ich habe mir das als Karteikarte wie folgt eingeprägt:
    Der Schuldner hat regelmäßig ein Verschulden (= Vorsatz/Fahrlässigkeit)seinerseits zu vertreten, allerdings kann er auch aufgrund anderer Umstände (Garantie, § 278 etc.) die Leistungsstörung zu vertreten haben, ohne schuldhaft gehandelt zu haben (verschuldensunabhängig).
    Gruß

    • klartext-jura sagt:

      Danke für den Gedankenanstoß zur Systematisierung.

      • Philine sagt:

        Danke für Deine Übersicht, love it!

        Als vielleicht eindeutigeres Beispiel für die Haftungsprivilegien/Fälle milderer Haftung eignet sich denke ich § 8 SGB VII (nur Vorsatz) oder die Haftungsbeschränkung auf die Verletzung der eigenüblichen Sorgfalt – dazu ausführlich Walker in der JuS 2015, 865 (867 f.). Vielleicht hilft der Aufsatz bei der vertieften Systematisierung!

  6. Thomas Karbowski sagt:

    Interessant zu wissen, dass Vertretenmüssen der Oberbegriff gegenüber Verschulden ist. Mein Neffe möchte sich nach Ende seines Jurastudiums im Bereich des Zivilrechts spezialisieren. Er muss sich deshalb die Unterscheidung zwischen Verschulden und Vertretenmüssen einprägen.

  7. LCF sagt:

    Richtig super erklärt, ganz herzlichen Dank!

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