In der RÜ 2/2015 zitiert Wüstenbecker auf Seite 123 das VG Berlin wie folgt:
VG Berlin: „[11] … Eine gesonderte Anhörung der Antragstellerin vor Erlass der Anordnung der sofortigen Vollziehung war entgegen der Ansicht der Antragstellerin nicht erforderlich. Gemäß § 28 Abs. 1 VwVfG ist (lediglich) vor Erlass eines Verwaltungsaktes, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, dem Betroffenen Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Da es sich bei der Anordnung der sofortigen Vollziehung nach ganz herrschender Meinung nicht um einen Verwaltungsakt im Sinne des § 35 VwVfG handelt (…), besteht die Anhörungspflicht nach § 28 Abs. 1 VwVfG nicht.
Dazu schreibt er:
Das Anhörungsproblem taucht nicht nur in Klausuren, sondern auch in der Praxis immer wieder auf.
(aA Gersdorf, BeckOK, VwGO, § 80 VwGO Rn. 83, der dem Streit in der Praxis keine besonders große Bedeutung beimisst.)
Für uns kann die Frage der Praxisrelevanz dahin stehen, weil wir uns jedenfalls in einer Klausur zu der Problematik äußern müssen.)
Problematisch ist die präsentierte Lösung für Klausuren insofern, als sie die Gefahr mit sich bringt, Punkte zu verschenken.
Zunächst fehlt eine Begründung, warum die Anordnung der sofortigen Vollziehung „nach ganz herrschender Meinung“ kein Verwaltungsakt im Sinne des § 35 S. 1 (!) VwVfG sein soll.
Gersdorf schreibt dazu im BeckOK, VwGO, 2013, § 80 VwGO Rn. 80:
Die sofortige Vollziehung begründet keine sachliche Rechtsfolgeanordnung und damit keine „Regelung“ iSd § 35 VwVfG […].
Die Verwaltungsakts-Qualität scheitert also bereits an dem hier fehlenden Kriterium der „Regelung“. Dies erläutert Gersdorf unter der gleichen Randnummer wie folgt:
Es handelt sich vielmehr um eine interimistisch wirkende verfahrensrechtliche Nebenentscheidung zum Verwaltungsakt, welche die Vollziehbarkeit des Verwaltungsakts bereits vor Eintritt seiner Unanfechtbarkeit zum Gegenstand hat.
Aus § 28 I VwVfG direkt kann also keine Anhörungsverpflichtung folgen. Möglicherweise kann die Norm aber analog herangezogen werden. Dazu schreibt Stumpf in der JuS 2014, 57 (60):
Die Gegenauffassung will § 28 I VwVfG zwar nicht direkt, wohl aber analog anwenden. Sie stützt sich vornehmlich darauf, dass der Verlust der in § 80 I garantierten aufschiebenden Wirkung für den Betroffenen eine so starke Belastung darstelle, dass dies nicht ohne die aus Art. 19 IV GG hergeleitete Anhörung erfolgen könne.
Warum entgegen dieser Ansicht § 28 I VwVfG nicht analog herangezogen werden kann, bringt Gersdorf im BeckOK, VwGO, § 80 VwGO Rn. 81, wie folgt auf den Punkt:
Auch ist § 28 VwVfG nicht anlog anwendbar […]. Es fehlt schon an der Regelungslücke als Voraussetzung für die Analogiebildung. § 80 Abs 2 S 1 Nr 4, Abs 3 VwGO stellen abschließende Regelungen der formellen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen für die Anordnung der sofortigen Vollziehung dar […].
Diese Darstellung ist methodisch überzeugend, da eine Analogie zunächst eine Regelungslücke voraussetzt. Dass diese auch planwidrig sein muss, braucht hier nicht weiter analysiert zu werden, da ja gar keine Regelungslücke vorliegt.
Im Sinne einer „Überdies-Prüfung“ erörtert Gersdorf ebenfalls unter Randnummer 81 noch die weitere Voraussetzung einer Analogie, nämlich eine vergleichbare Interessenlage:
Weiter stimmt die Interessenlage nicht überein […]: Die Anordnung der sofortigen Vollziehung lässt sich im Verfahren des § 80 Abs 1 S 1 und Abs 5 S 1 VwGO leichter und schneller korrigieren als ein Verwaltungsakt, der nur durch Widerspruchs- und Klageverfahren aufgehoben werden kann. Außerdem kann die Anordnung der sofortigen Vollziehung im Gegensatz zum Verwaltungsakt nicht bestandskräftig werden, so dass der Betroffene nicht Gefahr läuft, durch Fristversäumung seine Rechtsposition einzubüßen.
Damit steht im Ergebnis fest, dass § 28 I VwVfG nicht analog herangezogen werden kann.
Es wird aber ein weiterer Ansatz diskutiert, über den zu einer Anhörungsverpflichtung gelangt werden könnte: Das Rechtsstaatsprinzip, Art. 20 III GG. Im Ergebnis lehnt Gersdorf, jetzt unter Randnummer 82, diesen Begründungsansatz aber mit der Erwägung ab, eine Anhörungsverpflichtung sei durch den einfachen Gesetzgeber auf den Fall belastender Verwaltungsakte beschränkt ab. Nicht alles, was wünschenswert erscheine, sei deswegen auch schon rechtsstaatlich geboten.
Rechtsschutz nach der Ansicht von Gersdorf würde dann so aussehen, dass der Betroffene seine Einwände im gerichtlichen Eilverfahren nach § 80 Abs. 5 S. 1 Alt 2 VwGO vortragen kann.
Wir sehen also, dass an dieser Stelle in einer Klausur mehr als ein Satz geschrieben werden kann. Dass dies auch dem Erwartungshorizont der Prüfer entspricht, zeigen verschiedene Fall-Bearbeitungen in der Ausbildungsliteratur:
Zu § 28 I VwVfG und § 28 I VwVfG analog zB Stumpf, JuS 2014, 57 (60); Breder/Przygoda, JuS 2010, 1004 (1006); Muckel/Ogorek nennen in der JA 2013, 845 (848) sogar drei Argumente gegen die VA-Qualität und gehen danach kurz auf § 28 I VwVfG analog ein; Gurlit/Ruthig/Storr, Klausurenkurs im Öffentlichen Wirtschaftsrecht, 2012, Rn. 108 thematisieren § 28 I VwVfG sowohl direkt als auch analog und prüfen zudem ein „Anhörungsgebot unmittelbar aus dem Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips nach Art. 20 Abs. 3 GG.
Merke: Falls in einem Klausur-Sachverhalt vor dem Erlass der Anordnung einer sofortigen Vollziehung keine Anhörung erfolgt ist, sollten wir folgende Punkte prüfen:
1) Folgt aus § 28 I VwVfG eine Anhörungspflicht? Nein, weil es sich bei der Anordnung der sofortigen Vollziehung um keinen Verwaltungsakt iSd § 35 S. 1 VwVfG handelt. Das sollte wie oben beschrieben begründet werden.
2) Ist § 28 I VwVfG analog heranzuziehen? Hier empfiehlt es sich, mit Gersdorf die Voraussetzungen der Analogie, nämlich die planwidrige Regelungslücke und – im Wege einer „Überdies-Prüfung“ – die vergleichbare Interessenlage zu untersuchen.
3) Ergibt sich aus dem Rechtsstaatsprinzip, Art. 20 Abs. 3 GG, eine Anhörungsverpflichtung?
Zu beachten ist, dass es sich an dieser Stelle in den wenigsten Fällen um den entscheidenden Klausurenschwerpunkt handeln dürfte. Trotzdem sollte man deutlich machen, dass die Diskussionen in Literatur und Rechtsprechung zu dieser Problematik bekannt sind.
Hey,
wie ist dieser Satz gemeint?
„Die Anordnung der sofortigen Vollziehung lässt sich im Verfahren des § 80 Abs 1 S 1 und Abs 5 S 1 VwGO leichter und schneller korrigieren als ein Verwaltungsakt“
§ 80 I 1, also Widerspruch und Anfechtungsklage, sollen ja nach den Ausführungen nur den belastenden VA betreffen?
MfG
J.K.
Danke für’s Mitdenken. Ja, genau so ist das Zitat von Gersdorf wohl gemeint. Er schreibt nämlich im BeckOK VwGO, 01.07.2015, § 80 VwGO, Rn. 9:
„§ 80 Abs. 1 setzt einen belastenden Verwaltungsakt voraus.“ Ich hoffe, das hilft.