Vor der Weihnachtspause erscheint heute hier eine (hoffentlich) entspannte Betrachtung zur Methodenlehre.
Wenn man juristisch aufmerksam durch die Welt geht, gibt es eine Fülle von Gelegenheiten zum forschenden Lernen, beispielsweise bei der Betrachtung der folgenden Verhaltensvorschrift an der Tür zu Seminarräumen für Juristen:
Ob man nun den Schönfelder mit in den Seminarraum nehmen darf?
Der Wortlaut der Vorschrift steht dem entgegen. Denn danach sind dort „nur“ Wasserflaschen gestattet. Und da der Schönfelder keine Wasserflasche ist, fällt er unter das Mitnahmeverbot. Die Lage wird noch dadurch kompliziert, dass der Wortlaut der Vorschrift ganz klar ist und – als Wortlaut – keine Zweifel zulässt.
Natürlich zweifelt der praktisch denkende Studierende der Rechtswissenschaft (und vielleicht nicht nur er) an der Vernünftigkeit dieses Ergebnisses. Denn man glaubt sofort zu ahnen, warum das Schild angebracht wurde. Offensichtlich hält der „Normgeber“ das Mitbringen von Flaschen mit Flüssigkeiten für gefährlich, und will von diesem „Gefahrgut“ nur Wasserflaschen zulassen. Wir können auch noch ahnen, worin die spezifische Flüssigkeitsgefahr gesehen wird: Wohl darin, dass klebrige oder fleckenverursachende Flüssigkeiten auslaufen können. Damit liegt der Zweck der Vorschrift auf der Hand, auch wenn er nicht explizit genannt wird. Die Gesamtsituation und unser Erfahrungswissen lassen einen ziemlich verlässlichen Schluss darauf zu. Und nun setzt sich ein Auslegungsprozess in Gang, der von der Kenntnis des Zwecks (griechisch „to télos“) hinter dem Wortlaut Gebrauch macht und deswegen gerne als „teleologisch“ (nicht: theologisch!) bezeichnet wird. Man könnte natürlich auch „zweckorientiert“ sagen. Die Kenntnis des Zwecks erlaubt es uns, die Reichweite einer Vorschrift auszudehnen oder einzuschränken, je nachdem was zur Zweckerreichung erforderlich ist. Im ersten Fall spricht man von „teleologischer Extension“, im zweiten Fall von „teleologischer Reduktion“. Welche der beiden Methoden ist nun im Falle der wasserflaschenbezogenen Vorschrift angezeigt? Wohl die eine Ausdehnung der Mitnahmeerlaubnis auf alle Gegenstände, die nicht das Gefahrenpotential klebriger oder fleckenverursachender Flüssigkeiten haben. Summa summarum: Teleologisch betrachtet ist die Mitnahme des Schönfelders erlaubt – ein beruhigendes Auslegungsergebnis – und keine Hexerei.
Im Beispiel von eben musste der hinter der Vorschrift stehende Zweck durch Nachdenken erschlossen werden. Ein „Normgeber“, der insoweit kein Risiko eingehen will, nennt klugerweise den Zweck gleich mit. Und so findet sich im selben Gebäude in einem anderen Stockwerk eine entsprechende Sicherheits-Variante der Vorschrift:
(Zusätzlich ist dieser „Normgeber“ auch noch höflich :-).)
Verständnisfrage:
Was wäre, wenn es einen Seminarraum ohne Teppichboden gäbe?
Damit verabschiedet sich klartext-jura in die Weihnachtspause und wünscht allen Besucherinnen und Besuchern schöne Weihnachtstage und ein gutes Jahr 2016 – mit möglichst wenig Auslegungsproblemen.
(Der nächste Blog-Beitrag erscheint – mit Rücksicht auf das orthodoxe Weihnachtsfest – am 08.01.2016.)
Die „Normgeber“ fragen sich gerade, wie man es – unter Beibehaltung dieses Auslegungsergebnisses – besser formulieren könnte, da weitere Aushänge gedruckt werden müssen. Vorschläge?
Man könnte – wenn ich die Intention des Normgebers richtig verstehe – wie folgt formulieren:
„In den Seminarräumen sind keine Getränke außer Wasser in Plastikflaschen erlaubt!!!“
Entwurf für die 1. Lesung 😉
Das würde allerdings nur einen Teil des Problems vor und in den Seminarräumen lösen (von dem ich mich gestern selbst überzeugt habe), dazu gehören auch Flecken im Teppich von – vermutlich – eingetretenen Essensresten, Soßenflecken (?), aber auch Kaugummis. Das alles passt in der Schriftgröße gar nicht auf den Zettel.
Ich hatte deshalb ja eine Benutzungsordnung für die Seminarräume vorgeschlagen. Dafür hatten gestern aber weder die Kollegen noch ich Zeit. 😉