In der Ausbildungsliteratur finden sich häufig Ausführungen zu der Frage, ob und wie die heutigen Auslegungsmethoden auf Savigny zurückgehen, beispielsweise so:
Es gibt vier Auslegungsmethoden, die auf Savigny zurückgehen.
(Linderkamp/Kreke, Jura info 4/2015, V)
Auf der Basis dieser Ausgangsbehauptung werden dann behandelt:
– Grammatikalische Auslegung
– Systematische Auslegung
– Historische Auslegung
– Teleologische Auslegung
Anders formulieren es Christensen/Pötters in der JA 2010, 566 (568):
Die grammatische Auslegung erschließt den Fachsprachgebrauch bzw. Varianten der Alltagssprache. Die systematische Auslegung erschließt den Kontext des Gesetzes bzw. der Rechtsordnung als Ganzes. Die historische Auslegung erbringt den Kontext früherer Normtexte und die genetische den der Gesetzesmaterialien. Das sind die klassischen canones nach Savigny.
Und jetzt betrachten wir, was Savigny tatsächlich geschrieben hat.
Das Eigenthümliche derselben [der Auslegung, M.H.] zeigt sich aber, wenn wir sie in ihre Bestandtheile zerlegen. So müssen wir in ihr vier Elemente unterscheiden: ein grammatikalisches, logisches, historisches und systematisches.
Das grammatische Element zur Auslegung hat zum Gegenstand das Wort, welches den Übergang aus dem Denken des Gesetzgebers in unser Denken vermittelt. Es besteht daher in der Darlegung der von dem Gesetzgeber angewendeten Sprachgesetze.
Das logische Element geht auf die Gliederung des Gedankens, also auf das logische Verhältnis, in welchem die einzelnen Theile desselben zu einander stehen.
Das historische Element hat zum Gegenstand den zur Zeit des gegebenen Gesetzes für das vorliegende Rechtsverhältnis durch Rechtsregeln bestimmten Zustand. In diesen Zustand sollte das Gesetz auf bestimmte Weise eingreifen, und die Art dieses Eingreifens, das was dem Recht durch dieses Gesetz neu eingeführt worden ist, soll jenes Element zur Anschauung bringen.
Das systematische Element endlich bezieht sich auf den inneren Zusammenhang, welcher alle Rechtsinstitute und Rechtsregeln zu einer großen Einheit verknüpft […]. Dieser Zusammenhang, so gut als der historische, hat dem Gesetzgeber gleichfalls vorgeschwebt, und wir werden also seinen Gedanken nur dann vollständig erkennen, wenn wir uns klar machen, in welchem Verhältnis dieses Gesetz zu dem ganzen Rechtssystem steht, und wie es in das System wirksam eingreifen soll.
(Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Erster Band, 1840, S. 213f, Hervorhebungen nicht im Original).
Wir halten fest: Savigny beschreibt vier Elemente der Auslegung:
– Das grammatikalische
– Das logische
– Das historische
– Das systematische
Diese vier Elemente decken sich nicht mit den vier bei Linderkamp/Kreke genannten Auslegungsmethoden. Sie decken sich auch nicht mit der Aufzählung bei Christensen/Pötters.
[…] allen drei Entscheidungen ist von theologischer Auslegung die Rede. Zu den klassischen canones der juristischen Auslegung gehört jedoch nicht die theologische Auslegung, sondern die teleologische […]
Danke für diesen Beitrag! Ließe sich die „teleologische“ Auslegung als eigenständiges Auslegungskriterium überhaupt rechtfertigen?
M.E. nein. Wenn nämlich Auslegungsziel der Wille des Gesetzgebers ist (so die m.E. zutreffende subjektive Auslegungstheorie) und der Wille des Gesetzgebers dasselbe ist wie der Zweck des Gesetzes (was soll das Gesetz? = was will der Gesetzgeber?), dann kann ein als Zweck des Gesetzes verstandenes „Telos“ nicht MITTEL der Auslegung sein. Es wäre vielmehr selbst das ZIEL der Auslegung. Als Mittel der Auslegung würden die von Savigny genannten Kriterien übrig bleiben, von denen allerdings die „logische“ Auslegung als eigenständiges Kriterium abzulehnen sein drüfte, weil Logik ja schon Grundvoraussetzung jeder wissenschaftlichen (Auslegungs-) Methode sein dürfte.
Danke für diesen methodisch scharfsinnigen Kommentar!