Wenn ich einen Fall in der Ausbildungsliteratur lese, versuche ich immer zunächst, den Sachverhalt zu verstehen. Nur wenn mir dieser klar ist, kann ich über die Lösung nachdenken. In der JA 2014, 942 schildert Looschelders einen Sachverhalt, den ich zunächst nicht nachvollziehen konnte:
Die Klägerin beauftragte die Beklagte durch Generalunternehmervertrag (GU), einen gebrauchs- und schlüsselfertigen Bürohauskomplex zu errichten. Die Fassade war mit über 3.000 emaillierten, thermisch vorgespannten (dh nach einem besonderen Verfahren gehärteten) Glasscheiben zu verkleiden. In der Leistungsbeschreibung heißt es dazu, der Auftraggeber habe nachzuweisen, dass die zur Verwendung kommenden Glasscheiben keine zerstörenden Einschlüsse (zB Nickelsulfid) haben.
Wenn die Klägerin den Beklagten durch Generalunternehmervertrag beauftragt hat, dann ist die Klägerin Auftraggeber und der Beklagte Auftragnehmer. Doch warum schreibt man in eine Leistungsbeschreibung, dass der Auftraggeber nachzuweisen hat, dass die zur Verwendung kommenden Glasscheiben keine zerstörende Einschlüsse haben? Man könnte das für eine offensichtliche Unrichtigkeit halten. Aber völlig unmöglich ist eine solche Klausel auch wieder nicht. Schauen wir also genauer in die zugrunde liegende Entscheidung des BGH.
BGH, Urteil vom 08.05.2014, VII ZR 203/11, Rn. 2:
Durch den AN ist nachzuweisen, dass die zur Verwendung kommenden vorgespannten Glasscheiben keine zerstörenden Einschlüsse (z.B. Nickelsulfid) haben.
AN dürfte die Abkürzung für Auftragnehmer ist. Für diese Deutung spricht auch folgende Passage, Rn. 17:
Die Parteien haben zur Beschaffenheit der Glasscheiben in der Leistungsbeschreibung unter Ziffer 2.3.1 Satz 1 vereinbart, dass die zur Verwendung kommenden vorgespannten Glasscheiben keine zerstörenden Einschlüsse (z.B. Nickelsulfid) haben dürfen. Darin kommt der für die Beklagte [Auftragnehmer, M.H] erkennbare Wille der Klägerin [Auftraggeber, M.H.] zum Ausdruck, die erheblichen Gefahren für Leib und Leben von Passanten, die durch berstende und herabfallende Glasscheiben entstehen können, vollständig auszuschließen.
Es spricht also die überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Nachweis vom Auftragnehmer zu erbringen ist.
Was lernen wir aus diesem Beispiel?
Wir sollten Sachverhalte immer kritisch lesen und prüfen, ob sie konsistent sind. Im Zweifel empfiehlt es sich, bei der Klausuren-Aufsicht nachzufragen. Ich habe einmal eine missverständliche Frage in einer Klausur ohne Rückfrage nach meiner Deutung beantwortet. Nachdem durch die Korrektur sichtbar wurde, dass die Frage anders gemeint war, habe ich bei dem Professor nachgefragt. Er meinte, in solchen Fällen müsse man während der Klausur nachfragen. Wenn ernsthafte Zweifel in Bezug auf den Sachverhalt bestehen, ist es also besser nachzufragen.
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