Reusch schreibt in Langheid/Wandt, Münchener Kommentar zum VVG, 2016, § 95 VVG:
Erwirbt ein Minderjähriger eine versicherte Sache, sind zwar grundsätzlich abgesehen von der Schenkung alle schuldrechtlichen Verpflichtungsgeschäfte einwilligungsbedürftig. Das gilt aber nicht für den Erwerb von Rechten, also insbesondere die Übereignung einer Sache, wenn diese für den Minderjährigen lediglich mit einem rechtlichen Vorteil verbunden ist. Der BGH beurteilt dies insbesondere bei der in der Praxis bedeutsamen Schenkung an den Minderjährigen im Wege einer Gesamtbetrachtung und Abwägung der Vor- und Nachteile des schuldrechtlichen und des dinglichen Vertrages.41
Und in der Fußnote 41 steht dann:
BGH NJW 1981, 111.
Dies ist die Entscheidung des BGH vom 19.09.1980 (V ZR 78/79), in der die Gesamtbetrachtungslehre angewendet wurde. Doch ist es noch zeitgemäß, mit dieser Rechtsprechung zu arbeiten?
Klare Antwort: Nein!
Denn der BGH hat mit seiner Entscheidung vom 25.11.2004 (V ZB 13/04) im Leitsatz 1 wie folgt judiziert:
Ist die dingliche Übertragung eines Grundstücks an einen Minderjährigen bei isolierter Betrachtung lediglich rechtlich vorteilhaft, bedarf seine Auflassungserklärung auch dann nicht der Einwilligung des gesetzlichen Vertreters oder eines Ergänzungspflegers, wenn die zugrunde liegende schuldrechtliche Vereinbarung mit rechtlichen Nachteilen verbunden ist. Eine Gesamtbetrachtung des schuldrechtlichen und des dinglichen Rechtsgeschäfts ist in diesem Fall nicht veranlaßt (Abgrenzung zu BGHZ 78, 28).
(Hervorhebung nicht im Original)
Das ist zumindest eine Modifikation der Entscheidung von 1981.
Auf die Entscheidung von 2004 hat sich der BGH sodann mit der Entscheidung vom 30.09.2010 (V ZB 206/10), Rn. 6 wie folgt bezogen:
Ein auf den Erwerb einer Sache gerichtetes Rechtsgeschäft ist für den Minderjährigen nicht lediglich rechtlich vorteilhaft, wenn er in dessen Folge mit Verpflichtungen belastet wird, für die er nicht nur dinglich mit der erworbenen Sache, sondern auch persönlich mit seinem sonstigen Vermögen haftet (Senat, BGHZ 161, 170 [175] = NJW 2005, 415). Ob diese weitergehenden Verpflichtungen von den Beteiligten des Rechtsgeschäfts angestrebt worden sind, ist unerheblich. Es genügt, wenn sie die gesetzliche Folge des angestrebten Rechtsgeschäfts sind (Senat, BGHZ 161, 170 [178] = NJW 2005, 415). Ob das der Fall ist, bestimmt sich entgegen der früheren, aufgegebenen Rechtsprechung des Senats (dazu BGHZ 78, 28 [35] = NJW 1981, 109) nicht nach einer Gesamtbetrachtung des dinglichen und des schuldrechtlichen Teils des Rechtsgeschäfts, sondern nach einer isolierten Betrachtung allein des dinglichen Erwerbsgeschäfts (Senat, BGHZ 161, 170 [173f.] = NJW 2005, 415 [= V ZB 13/04, M.H.]), hier also allein der Eigentumsübertragung.
(Hervorhebung nicht im Original)
Zwar streitet die Literatur darüber, ob man von einer vollständigen Aufgabe der Gesamtbetrachtungslehre für alle denkbaren Fallkonstellationen sprechen kann. Zu dieser Thematik äußern sich Grigoleit/Herresthal, BGB Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2014, S. 142 f Fn. 31 wie folgt:
Vgl. BGHZ 187, 119 = NJW 2010, 3643. Allerdings lag diesem Urteil die Konstellation zugrunde, dass sowohl Verpflichtungs- als auch Verfügungsgeschäft nachteilig waren. Daher kam es nicht auf die Gesamtbetrachtungslehre an. Aus diesem Grund wurden Bedenken geäußert, ob die Gesamtbetrachtungslehre von der Rechtsprechung auch für Fälle aufgegeben wurde, in denen das schuldrechtliche Verpflichtungsgeschäft lediglich rechtlich vorteilhaft und nur das dazugehörige Verfügungsgeschäft nachteilig ist; […]. Indessen ist auch zu berücksichtigen, dass der BGH bereits im Jahr 2005 (diesem Fall lag ein rechtlich vorteilhaftes Verpflichtungs- und nachteiliges Verfügungsgeschäft zugrunde) eine teleologische Reduktion des § 1795 I Nr. 1 Hs. 2 (entsprechende Regelung zu § 181 letzter Hs.) wegen der Gefahr einer Interessenkollision angenommen hat, BGHZ 162, 137, 142 f. = NJW 2005, 1430, 1431 [= V ZB 44/04, M.H.]. Für eine Deutung i.S. einer Abwendung von der Gesamtbetrachtungslehre auch Staudinger/Knothe 2011, § 107 Rn. 31. A. A. aber Palandt/Ellenberger, § 107 Rn. 6, wonach weiterhin grundsätzlich eine Gesamtbetrachtung anzustellen sei; eine getrennte Prüfung erfolge nur, wenn bereits das Verpflichtungsgeschäft bei isolierter Betrachtung zustimmungspflichtig ist.
Selbst wenn man diesen Meinungsstreit in Rechnung stellt, kann man im Jahre 2016 nicht schreiben, der BGH wende die Gesamtbetrachtungslehre an, ohne auf die zitierten Entscheidungen aus den Jahren 2004, 2005 und 2010 einzugehen.
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