Christian Brand und Raphael Blatter schreiben in der JuS 2016, 983 ff:
In zwei grundlegenden jüngeren Entscheidungen geht der BGH der Frage nach, ob das Gemeinschaftsrecht dazu zwingt, liebgewonnene dogmatische Figuren des Betrugstatbestands zu überdenken.
(S. 983)
Zuvor muss aber Klarheit darüber herrschen, wie das Gemeinschaftsrecht auf das nationale Strafrecht einwirken kann (u. B).
(S. 983)
B. Einflüsse des Unionsrechts auf das nationale Strafrecht
(S. 984)
Das Gemeinschaftsrecht beeinflusst den nationalen Rechtsraum auf ganz unterschiedliche Weise.
(S. 984)
Der EuGH hat schon sehr früh Kriterien herausgearbeitet, bei deren Vorliegen das Unionsrecht innerstaatlich unmittelbare Anwendung findet.
(S. 984)
Kollidiert nationales Recht mit unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht und weist der Sachverhalt, den es zu beurteilen gilt, einen unionsrechtlichen Bezug auf, verliert die nationale, mit Unionsrecht unvereinbare Vorschrift nicht ihre Wirksamkeit, sondern wird von der unmittelbar anwendbaren unionsrechtlichen Vorschrift bei der Lösung des konkreten Falls lediglich verdrängt.
(S. 984)
Ob die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben innerstaatlich unmittelbar anwendbar sind, spielt – anders als im Kontext des Anwendungsvorrangs – bei der unionsrechtskonformen Auslegung keine Rolle. Zugänglich sind der unionsrechtskonformen Auslegung nicht nur Vorschriften, die dazu dienen, gemeinschaftsrechtliche Vorgaben umzusetzen, sondern – bei einem entsprechenden Anknüpfungspunkt – das gesamte nationale Recht.
(S. 984)
Diese Beispiele sollen nun reichen, um die Frage anzudeuten, die ich heute thematisieren möchte. Es ließen sich dem Aufsatz von Brand/Blatter aber noch viele weitere Zitate dieser Art entnehmen.
Was fällt bei diesen Zitaten auf?
Einmal ist von Gemeinschaftsrecht und einmal von Unionsrecht die Rede. Können diese Begriffe synonym verwendet werden?
Betrachten wir zunächst die Terminologie in den beiden BGH-Entscheidungen, die die Autoren ansprechen.
BGH, Urt. v. 05.03.2014, 2 StR 616/12:
Die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung wird überwiegend aus Art. 4 Abs. 3 EUV […] und aus Art. 288 Abs. 3 AEUV […] abgeleitet […]. Richtlinienkonform auszulegen sind dabei zunächst diejenigen Vorschriften, die unmittelbar der Umsetzung einer EU-Richtlinie dienen […] darüber hinaus ist aber auch das sonstige nationale Recht im Einklang mit den Vorgaben des Unionsrechts auszulegen, selbst wenn es sich um Vorschriften handelt, die vor oder unabhängig von dem Erlass der Richtlinie ergangen sind […].
(Rn. 24, Hervorhebung nicht im Original)
Infolgedessen besteht die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung auch im Bereich des Strafrechts […]. Sie kann dazu führen, dass unter mehreren vertretbaren Auslegungsvarianten einer Strafnorm diejenige zugrunde zu legen ist, die dem Unionsrecht am besten gerecht wird [….].
(Rn. 25, Hervorhebung nicht im Original)
Auch wenn sich die innerstaatliche Rechtsanwendung an den gesamten Wertungsvorgaben des Unionsrechts zu orientieren hat […], unterliegt die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung Grenzen. Sie setzt grundsätzlich erst dann ein, wenn der Inhalt der Richtlinie insgesamt oder im angewendeten Bereich eindeutig ist […]. Dies gilt auch für den Bereich des Strafrechts.
(Rn. 27, Hervorhebung nicht im Original)
Der Begriff „Gemeinschaftsrecht“ taucht in dem gesamten Urteil des BGH nicht auf. Und auch in der zweiten Entscheidung des BGH, Urt. v. 28.05.2014, 2 StR 437/13 wird der Begriff „Gemeinschaftsrecht“ nicht verwendet.
Schauen wir uns den Unterschied zwischen „Gemeinschaftsrecht“ und „Unionsrecht“ näher an. Zu dieser Unterscheidung schreibt Dautzenberg in Haritz/Menner, Umwandlungssteuergesetz, 4. Auflage 2014, C Rn. 35:
Das Recht der EU zerfiel früher in das im EG-Vertrag normierte oder auf seiner Grundlage erlassene Recht der EG (Gemeinschaftsrecht) und das auf der Grundlage der Bestimmungen des Vertrages über die EU erlassene Recht (Unionsrecht). Seit der Fusion von EG und EU zur EU durch den Vertrag von Lissabon mit Wirkung ab 2009 hat sich diese Differenzierung erledigt; es wird daher zurecht nur noch von „Unionsrecht“ gesprochen.
So auch Schmitz, Rechtsprechung zur europäischen Integration (Ein Internet-Kompendium zu wichtigen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes und der Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten):
Beachte außerdem die geänderte Terminologie: Wo die Gerichte seinerzeit von „Gemeinschaftsrecht“ sprachen, muss es heute „Unionsrecht“ heißen, denn die Unterscheidung von Gemeinschafts- und Unionsrecht wurde mit dem Vertrag von Lissabon aufgegeben.
Wir sollten auf diese Differenzierung achten und die Begriffe „Gemeinschaftsrecht“ und „Unionsrecht“ nicht als Synonyme im Sinne eines abwechslungsreichen Schreibstils verwenden.
Vollkommen richtig! Dem Leser wird fälschlicherweise suggeriert, es handele sich bei den beiden Begriffen um ein simples Synonym. Eine gewisse rechtsterminologische Sorgfalt kann der Leser einer JuS jedenfalls erwarten. So wenig wie die Begriffe Besitz und Eigentum, oder um es mal mit dem Völkerrecht zu versuchen, Staatenbund und Staatenverbund Synonyme sind, so wenig kann man die Begriffe „Gemeinschaftsrecht“ und „Unionsrecht“ gleichsetzen. Bis zum Vertrag von Lissabon wurde im Europarecht im engeren Sinne zwischen dem supranational wirkenden Gemeinschaftsrecht einerseits, dem Recht im Rahmen der erste Säule und dem völkerrechtlich wirkenden Recht der Europäischen Union, (welche seit 1993 existiert, hier wurde der Begriff Unionsrecht schon verwendet), dem Recht im Rahmen der zweiten und dritten Säule, unterschieden. Diese Unterscheidung ist seitdem hinfällig, man spricht einheitlich von „Unionsrecht“, folglich gibt es kein „Gemeinschaftsrecht“ mehr, denn es existiert im Unionsrecht weiter. Eine solche Unterscheidung bietet sich allenfalls im rechtshistorischen Kontext an. Dies war jedoch bestimmt nicht die Absicht der europarechtskundigen Autoren…
Vielen Dank für diese ausführliche Analyse.