Zivilrecht ist anders als Strafrecht – oder: Im Zivilrecht fahren keine „Dickschiffe“

Es ist immer wieder (ent-)spannend, die Videos von Anne Kissner (Bodylaw) anzusehen. Zwangloses Plaudern, sympathisch intoniert. Man bekommt ein ganz schlechtes Gewissen, wenn sich der innere kritische Begleitwille meldet. Aber ich fürchte, diesmal ist eine kleine Zusatzbemerkung unvermeidlich. Es geht um das Video „Skizzen erstellen in der Klausur – Tipps fürs Jura Studium – Rechtswissenschaften„.

Zitat:

Sowohl im Zivilrecht als auch im Strafrecht gibt es ja Anspruchsgrundlagen oder Straftatbestände, die wichtiger sind und auf die ganz klar der Schwerpunkt zu legen ist, wohingegen die später zu prüfenden Anspruchsgrundlagen oder Straftatbestände eher nur kurz gezeigt werden soll, dass man sie erkannt hat.

(4:25 – 4:44)

Richtig ist die Beobachtung für das Strafrecht.

Beweis:

Innerhalb der einzelnen Tatkomplexe wird die Prüfung der Strafbarkeit des jeweiligen Beteiligten nach Straftatbeständen gegliedert. Generell soll sich der Bearbeiter bei der Reihenfolge der einzelnen Straftatbestände von dem Grundsatz der Schwerpunktbildung leiten lassen nach der Devise: Klotzen, nicht kleckern“ […] bzw „Dickschiffe voraus“ […].

(Beulke, Klausurenkurs im Stafrecht I, 2010, Rn. 51.)

Aber im Zivilrecht?

Da gibt es einen allgemeinen Konsens über die Prüfungsreihenfolge:

  1. Vertragliche Ansprüche
  2. Vertragsähnliche Ansprüche
  3. Dingliche Ansprüche
  4. Deliktische Ansprüche
  5. Bereicherungsrechtliche Ansprüche

(Nur bei 4. und 5. lässt sich eine Reihenfolgeregel nicht zwingend begründen.)

Die Begründung läuft in etwa so: Was vorab geprüft wird, kann Einfluss auf die Prüfung der weiteren Punkte haben. Bei 1. und 2. läuft das zB so, dass ein vertraglich erteilter Auftrag (Vorfrage) der Annahme einer Geschäftsführung ohne Auftrag im Wege stehen kann.

Und weil das so ist, kann man im Zivilrecht keine „Dickschiffe“ voranschicken. Natürlich soll man im Rahmen dieser Reihenfolge die Schwerpunkte vernünftig setzen

Möge die Meisterin diese kleine „Beckmesserei“ nicht falsch verstehen … :-).

5 comments

  1. SuperiorLaw sagt:

    Diese Richtigstellung ist wirklich wichtig, weil die Reihenfolge der Prüfung von Ansprüchen im Zivilrecht zu den Grundlagen gehört. Da darf man so eine Aussage nun wirklich nicht stehen lassen. Ich frage mich aber auch, wie man einen Anspruch auf Schadenersatz, einen Anspruch auf Unterlassen und einen Anspruch auf Nacherfüllung nach ihrer Wichtigkeit sortieren will. Im Strafrecht gibt immerhin das Strafmaß sehr eindeutige Indize, das fehlt im Zivilrecht gänzlich, ich weiß deshalb nicht, wie es gemeint sein soll, dass Anspruchsgrundlagen „wichtiger“ sein sollen als andere.

    Vielleicht meinte die Kollegin, dass ein Sachverhalt bei einigen Anspruchsgrundlagen mehr oder komplexere juristische Fragestellungen aufwirft als bei anderen. Dann kann man in der Klausur den „Hauptteil“ der Arbeit als erstes und dementsprechend auch ohne Zeitdruck schreiben und erst im Nachhinein die losen Blätter entsprechend des Prüfungsschemas zu sortieren. Die Technik funktioniert aber sicherlich nicht für jeden. Klingt auch nicht so, als hätte sie es so gemeint.

  2. Im Kontext dieser Passage wurde auch hauptsächlich über Strafrecht und die Skizzierung der Lösung dazu gesprochen.

    Mit „wichtigere Anspruchsgrundlagen bzw. Straftatbestände“, meint sie wohl wichtiger im Sinne von, dass man hier die Punkte für die Klausur holen kann. Dies muss nicht zwingend im Sinne einer stringenten Prüfungsreihenfolge verstanden werden.

    Sie rudert ja dann auch zu der Strafrechtsskizze (Aussetzung) zurück und betont dies nochmal „besonders im Strafrecht“ (vielleicht hat sie den Fehler wieder gerade biegen wollen?). Insofern wurde hier – mit Recht – eine „Nadel im Heuhaufen“ gefunden und Klartext gesprochen.

    Im Zivilrecht sind – vorausgesetzt mehrere Anspruchsgrundlagen kommen bei einer Forderung in Betracht – vertragliche und quasivertragliche Ansprüche oft die, welche am meisten vom Prüfungskandidaten abverlangen. In den nachträglich zu prüfenden Ansprüchen kann man dann oft auf das davor geschriebene verweisen. (z.B.: Der Anspruch ist mangels Rechtsgrund, wie davor geprüft, kondizierbar).

    Oder man prüft einen reinen SchadenSersatzanspruch aus deliktischem Verhalten ohne vertraglichen Bezug und „überspringt“ in der Skizze diese Reihenfolge, die man natürlich davor im Kopf gegangen sein muss. Insofern bleibt der „wichtigere“ Anspruch dann doch an erster Stelle, obwohl er sich in der Prüfungsreihenfolge eher auf den letzteren Plätzen befindet.

    Daher nimmt oft (aber nicht immer) der Schreibaufwand in der Reihenfolge ab. Insofern hat sie doch vielleicht ein bisschen Recht, vorausgesetzt es liegt ein solcher Fall vor…

    I.E. ist die Anmerkung richtig und wichtig. Diese Prüfungsreihenfolge ist zwingend und setzt sich auch später im Berufsleben fort und ist keinesfalls, eine nur aus dogmatischen Gründen einhergehende „Quälerei“ der Jurastudenten.

    • klartext-jura sagt:

      Danke, dass sich hier so eine lebhafte Diskussion zu diesem praktisch wichtigen Thema entwickelt. Ich will ja immer nur so einen Stein ins Wasser werfen, der zum Nachdenken anregen soll.

  3. Ich habe erste nicht verstanden, was Sie genau mit „Dickschiffe“ im Zivilrecht gemeint haben. Ich denke, das ist eine lustige Metapher. Die Zitaten machen mir viel klar.

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