In der FAZ vom 11.09.2021 steuert René Schlott in einem Leserbrief auf S. 7 folgende Beobachtung bei:
Im Gegensatz zur Zeit Kants gibt es heute eine UN-Kinderrechtskonvention und eine geschriebene Verfassung in Deutschland, die Menschen- und Bürgerrechte garantiert. Das Grundgesetz war bei seiner Entstehung 1948/49 gedacht und konzipiert als eine Verfassung der Freiheit, die Worte Sicherheit und Gesundheit kommen darin nicht einmal vor. Freiheit durchzieht als Grundprinzip den gesamten Grundrechtekatalog. Ihre Einschränkung ist möglich, bedarf aber der Rechtfertigung und einer schlüssigen Begründung. Individuelle Ängste zählen nicht dazu.
Da ist natürlich die Versuchung groß, die Terminologie-Behauptung zum Grundgesetz durch eine Recherche zu überprüfen.
Die erste Frage ist die, auf welche Fassung des Grundgesetzes sich die sprachstatistische Feststellung bezieht. Wahrscheinlich ist die Erstfassung des Grundgesetzes gemeint. Denn es wird auf die Entstehung Bezug genommen und dann festgestellt, dass „darin“ die Worte „Sicherheit“ und Gesundheit“ nicht vorkommen.
Für das Wort „Sicherheit“ trifft die Feststellung nicht zu. Denn dafür gibt es im Sinne der Fragestellung des Leserbriefs immerhin einen einschlägigen Treffer in Art. 13 (Unverletzlichkeit der Wohnung):
(3) Eingriffe und Beschränkungen dürfen im übrigen nur zur Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr für einzelne Personen, auf Grund eines Gesetzes auch zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere zur Behebung der Raumnot, zur Bekämpfung von Seuchengefahr oder zum Schutze gefährdeter jugendlicher · vorgenommen werden.
BGBl. Teil I Nr. 1, 23. Mai 1949, S. 3
(Der zweite Treffer in Art. 24 Abs. 2, wo vom „System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ die Rede ist, betrifft nicht das Thema des Leserbriefs.)
Das Wort „Gesundheit“ kommt aber tatsächlich in der Urfassung des Grundgesetzes nicht vor und auch in der aktuell geltenden Fassung nicht. Das ist aber nur eine Beobachtung an der terminologischen Oberfläche, weil der Schutz der Gesundheit zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) gehört.
Bei der Gelegenheit: Zu der im Leserbrief thematisierten Spannungslage zwischen „Freiheit“ und „Sicherheit“ hat Benjamin Franklin Bedenkenswertes gesagt.
Und da liegt die Krux an der Sache: Die Grundrechte sind auch Abwehrrechte des Individuums gegen den Staat. Es ist nicht unkritisch Artikel 2 Abs 2 GG so zu verstehen, dass dem Staat hier eine Art „Behütungsauftrag“ zustehe, denn damit verwandelt sich der Artikel plötzlich zu einem Werkzeug des Staates.