Versöhnungsversuch: Auf welche Fristen bezieht sich § 1567 Abs. 2 BGB?

Aus § 1565 Abs. 2 BGB ergibt sich der Grundsatz, dass eine Scheidung den Ablauf eines Trennungsjahres voraussetzt:

Leben die Ehegatten noch nicht ein Jahr getrennt, so kann die Ehe nur geschieden werden, wenn die Fortsetzung der Ehe für den Antragsteller aus Gründen, die in der Person des anderen Ehegatten liegen, eine unzumutbare Härte darstellen würde.

Betrachten wir folgendes Beispiel: Ehegatten haben sich am 01.01.2022 getrennt. Vom 01.09.2022 bis zum 01.10.2022 haben sie einen Versöhnungsversuch unternommen, der letztlich aber gescheitert ist. Einem Familienrichter liegt am 05.01.2023 die Frage vor, ob das Trennungsjahr bereits verstrichen ist.

Spontan würde man wahrscheinlich dazu neigen, den Ablauf des Trennungsjahres zu bejahen und zur Begründung auf § 1567 Abs. 2 BGB zu verweisen. Bei spontanen Eindrücken sollte man aber auf eine Lektüre des Gesetzestextes nie verzichten. Da können nämlich Überraschungen lauern. § 1567 Abs. 2 BGB lautet wie folgt:

Ein Zusammenleben über kürzere Zeit, das der Versöhnung der Ehegatten dienen soll, unterbricht oder hemmt die in § 1566 bestimmten Fristen nicht.

In unserem Fall geht es aber gar nicht um die in § 1566 BGB genannten Fristen, sondern um das in § 1565 Abs. 2 BGB vorgesehene Trennungsjahr. Unterbricht oder hemmt ein Versöhnungsversuch auch nicht die in § 1565 Abs. 2 BGB bestimmte Frist, von der ausdrücklich nicht die Rede zu sein scheint?

Dem Wortlaut von § 1567 Abs. 2 BGB nach wird man nur konstatieren können, dass die Vorschrift für § 1565 Abs. 2 BGB keine Aussage trifft. Freilich ist der Sinn und Zweck von § 1567 Abs. 2 BGB nicht nur im Anwendungsbereich von § 1566 BGB einschlägig, sondern auch im Anwendungsbereich von § 1565 Abs. 2 BGB. Das Telos von § 1567 Abs. 2 BGB besteht nämlich darin, Versöhnungsversuche zu fördern. Keiner der Ehegatten soll befürchten müssen, dass sich die verfahrensrechtliche Situation durch einen Versöhnungsversuch verschlechtert. Aber warum erwähnt der Gesetzgeber dann das Trennungsjahr aus § 1565 Abs. 2 BGB nicht in § 1567 Abs. 2 BGB?

Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir historisch etwas tiefer einsteigen.

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung für das Erste Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts (1. EheRG) vom 01.06.1973 sah für § 1565 BGB bis § 1567 BGB folgende Fassungen vor:

§ 1565 BGB

Eine Ehe kann geschieden werden, wenn sie gescheitert ist. Die Ehe ist gescheitert, wenn die Lebensgemeinschaft der Ehegatten nicht mehr besteht und nicht erwartet werden kann, daß die Ehegatten sie wieder herstellen.

§ 1566 BGB

(1) Es wird vermutet, daß die Ehe gescheitert ist, wenn die Ehegatten seit drei Jahren getrennt leben.
(2) Es wird unwiderlegbar vermutet, daß die Ehe gescheitert ist, wenn die Ehegatten seit einem Jahr getrennt leben und beide Ehegatten die Scheidung beantragen oder der Antragsgegner der Scheidung zustimmt.

§ 1567 BGB

(1) Die Ehegatten leben getrennt, wenn zwischen ihnen keine häusliche Gemeinschaft besteht und ein Ehegatte deren Herstellung erkennbar ablehnt. Die häusliche Gemeinschaft besteht auch dann nicht mehr, wenn die Ehegatten innerhalb der ehelichen Wohnung getrennt leben.
(2) Ein Zusammenleben über kürzere Zeit, das der Versöhnung der Ehegatten dienen soll, unterbricht oder hemmt die in § 1566 bestimmten Fristen nicht.

BT-Drs. 7/650, S. 8

In diesem Stadium des Gesetzgebungsverfahrens war in § 1565 BGB das Erfordernis eines Trennungsjahres nicht normiert. Deshalb war es konsequent, in § 1567 Abs. 2 BGB nur auf die in § 1566 BGB vorgesehenen Fristen zu verweisen.

Der Vermittlungsausschuss hat dann folgende Modifikation von § 1565 BGB vorgeschlagen:

Der bisherige Inhalt des § 1565 wird Absatz 1.

Es wird folgender Absatz 2 angefügt:

„(2) Leben die Ehegatten noch nicht ein Jahr getrennt. so kann die Ehe nur geschieden werden, wenn die Fortsetzung der Ehe für den Antragsteller aus Gründen, die in der Person des anderen Ehegatten liegen, eine unzumutbare Härte darstellen würde.“

(BR-Drs. 7/4992, S. 5)

Und hier ist dann vermutlich ein Fehler passiert. § 1565 wurde um das Erfordernis eines Trennungsjahres ergänzt. Übersehen wurde, dass sich auch in diesem Zusammenhang die Frage stellen kann, welche Auswirkungen Versöhnungsversuche haben.

In Anbetracht dieser Entstehungsgeschichte besteht ziemliche Einigkeit darüber, dass man es mit einem Redaktionsversehen zu tun hat. Da Redaktionsversehen kein juristisches Auslegungskriterium ist, müsste man in anderer Richtung Ausschau halten. In Frage kommt da ein teleologisches Argument: Der Wille des Gesetzgebers besteht darin, Versöhnungsversuchen keine Hindernisse in den Weg zu legen. Daraus lässt sich dann ableiten, dass er sich „im Ausdruck“ mit dem bloßen Verweis auf die Fristen in § 1566 BGB „vergriffen“ hat.

2 comments

  1. Carl sagt:

    Handelt es sich nicht um einen geradezu prototypischen Fall einer Analogie? Die Interessenlage ist vergleichbar, insoweit stimme ich voll zu. Hinsichtlich der Auswirkungen eines kurzfristigen Zusammenlebens auf die Frist in § 1565 Abs. 2 BGB fehlt es an einer Regelung. Angesichts der Entstehungsgeschichte ist diese planwidrig. Daher ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber seine Regelung in § 1567 Abs. 2 BGB auch auf § 1565 Abs. 2 BGB erstreckt hätte, wenn er den Fall bedacht hätte; mithin ist § 1567 Abs. 2 BGB analog anzuwenden.

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