Über das eigene Examen soll man nur mit gebührendem Abstand berichten. Ein Erlebnis besonderer Art hatte ich seinerzeit mit einer Standard-Thematik, die viele in gleicher Weise betreffen kann. Darum soll es heute gehen. Als Problem-Aufriss sei die RÜ 2015, 254ff zitiert. Dort löst Horst Wüstenbecker den Fall des VG Minden, 30.01.2015, 2 K 80/14 gutachtenmäßig. Auf Seite 255 schreibt er zur statthaften Klageart:
Statthafte Klageart ist die Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1, 1. Fall VwGO, gerichtet auf die Aufhebung der Verfügung vom 18.12.2013 als Verwaltungsakt i.S.d. § 35 S. 1 VwVfG.
Je nach Bundesland wird hier aber ein anderes Normzitat empfohlen. Wo müsste man gegebenenfalls anders zitieren?
Das Problem ist in § 35 S. 1 VwVfG angesiedelt.
Wienbracke, Verwaltungsprozessrecht, 2014, Rn. 129 schreibt dazu:
Ob der verwaltungsprozessuale Verwaltungsakt-Begriff des § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO stets an den verwaltungsverfahrensrechtlichen Verwaltungsakt-Begriff des Bundes-VwVfG anknüpft (§ 35 S. 1 VwVfG) oder ob bei Handeln einer Landesbehörde (vgl. § 1 Abs. 3 VwVfG, § 1 Abs. 1 VwVfG NRW) vielmehr auf den Verwaltungsakt-Begriff des jeweiligen Landes-VwVfG abzustellen ist (z.B. § 35 S. 1 VwVfG NRW), ist streitig, kann aufgrund der inhaltlichen Übereinstimmung beider Begriffe letztlich aber dahingestellt bleiben.
Leider hilft dieser ausgleichende Standpunkt in einer Klausur nicht immer, weil dort das Risiko besteht, dass nur eine der beiden Lösungen für richtig erklärt wird.
Das BVerwG, 23.08.2011, 9 C 2.11, zieht § 35 S. 1 VwVfG heran:
Das Oberverwaltungsgericht hat, indem es davon ausgegangen ist, dass es sich bei dem angefochtenen Gebührenbescheid um einen Verwaltungsakt handelt, den Verwaltungsaktsbegriff, der als Begriff des Prozessrechts der Verwaltungsgerichtsordnung (§§ 42, 68, 70, 75, 79 VwGO) auch dem Bundesrecht angehört (Urteil vom 12. Januar 1973 – BVerwG 7 C 3.71 – BVerwGE 41, 305 <306>), nicht verkannt. Bei dem Gebührenbescheid handelt es sich um eine auf unmittelbare Außenwirkung gerichtete Entscheidung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts im Sinne des bundesrechtlichen Verwaltungsaktsbegriffs, wie er in § 35 Satz 1 VwVfG definiert ist.
Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 2014, Rn. 185 erläutert, warum seiner Ansicht nach nur der bundesrechtliche Begriff des Verwaltungsakts verwendet werden darf:
Beachte: Abzustellen ist im Prozessrecht immer auf den bundesrechtlichen Begriff des Verwaltungsakts in § 35 VwVfG, nicht hingegen auf den landesrechtlichen Begriff in dem jeweiligen LVwVfG. Das gilt selbst dann, wenn eine Landesbehörde gehandelt hat und deshalb für die Beurteilung materiellrechtlicher Fragen (wie etwa der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts) die inhaltlich gleich lautende Legaldefinition des jeweiligen § 35 LVwVfG heranzuziehen ist. Wäre man anderer Ansicht, so ergäbe sich das schwerlich überzeugende Ergebnis, dass der Landesgesetzgeber in der Lage wäre, über den Umfang der bundesrechtlich geregelten Anfechtungsklage zu disponieren.
Bis hierhin sieht die Sache relativ eindeutig aus: § 35 S. 1 VwVfG wird präferiert.
Nun ein Blick in eine Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, Urteil vom 17.12.2012, 10 BV 09.2641, Rn. 59:
Sowohl die Erfassung als auch der Abgleich sind keine Verwaltungsakte im Sinne von Art. 35 Satz 1 BayVwVfG, weshalb die im Verhältnis zur allgemeinen Leistungsklage, zu der als Unterfall die Unterlassungsklage zählt, speziellere Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 VwGO) hier nicht in Betracht kommt.
Wir sehen: Das Gericht zieht den landesrechtlichen Verwaltungsakts-Begriff heran. Dem folgt auch die bayrische Literatur.
Brinktrine/Kastner, Fallsammlung zum Verwaltungsrecht, 2005, S. 111:
Das Schreiben ist auf die Setzung einer Rechtsfolge gerichtet, enthält also eine Regelung im Sinne des Art. 35 S. 1 BayVwVfG und ist daher ein (belastender) Verwaltungsakt. Um sein Ziel zu erreichen, muss Günter G diesen (belastenden) Verwaltungsakt beseitigen lassen. Für dieses Klageziel ist die Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO die statthafte Klageart.
Goldhammer/Hofmann, JuS 2014, 434 (435):
Sie sind einschlägig, wenn die Baugenehmigung ein für E belastender VA i. S. des Art. 35 S. 1 BayVwVfG mit gleichzeitiger Begünstigung des B (sog. Doppelwirkung) ist, wenn also in der Hauptsache eine Anfechtungsklage gem. § 42 I Var. 1 VwGO (Drittanfechtungsklage) statthaft ist und diese keine aufschiebende Wirkung entfaltet.
Weber, Baurecht Bayern, 2013, S. 179:
Hier kommt die Erhebung einer Verpflichtungsklage in Form der Versagungsgegenklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO in Betracht. Sowohl die begehrte Baugenehmigung als auch deren Ablehnung (actus contrarius) im streitgegenständlichen Bescheid des Landratsamtes Rosenheim stellen einen Verwaltungsakt im Sinne von Art. 35 S. 1 BayVwVfG dar.
Auch außerhalb von Bayern gibt es Autoren, die den landesrechtlichen Verwaltungsakt-Begriff heranziehen wollen.
Degenhart, Klausurenkurs im Staatsrecht II, 2015, Rn. 770:
Für das Begehren des Zorn, die Lärmbelästigung durch Maßnahmen gegen den Moscheeverein zu unterbinden, könnte die Verpflichtungsklage nach § 42 I Alt. 2 VwGO zulässig sein. Voraussetzung ist, dass das von der Verwaltung begehrte Verhalten ein Verwaltungsakt iSv § 35 S. 1 LVwVfG ist.
In der Fußnote 4 steht dann:
Hier ist das jeweilige LandesVwVfG zu zitieren, also zB Art. 35 BayVwVfG oder – für Sachsen – § 35 BVwVfG iVm § 1 SächsVwVfZG.
Schaks, Jura 2015, 396 (397):
In Betracht kommt die Anfechtungsklage gem. § 42 I Var 1 VwGO, wenn es sich bei dem Schreiben vom 14. 7. 2014 um einen Verwaltungsakt iSd § 1 I BerlVwVfG i. V. m. § 35 Satz 1 VwVfG handelt.
Neben den bisher genannten Möglichkeiten gibt es einen weiteren Formulierungsvorschlag in Saarheim:
Ob ein Verwaltungsakt in diesem Sinne vorliegt, richtet sich grundsätzlich nach der Legaldefinition des § 35 VwVfG, des § 31 SGB X, des § 118 AO und der entsprechenden Bestimmungen der Verwaltungsverfahrensgesetze der Länder, die als Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes auch für die Auslegung der VwGO maßgeblich ist […].
Wie der Scan meiner Klausur zum Verwaltungsprozessrecht zeigt, kann es aber vorkommen, dass dieser Satz in saarländischen Klausuren nicht akzeptiert wird. Der Korrektor hat den Satz eingeklammert und notiert, dass ich § 35 S. 1 (S)VwVfG schreiben sollte.
Damit haben wir eine weitere Variante, die zur Debatte steht:
Einklammern des Buchstabens, der auf das jeweilige Landesrecht Bezug nimmt. In der Vorlesung wurde dies so erläutert, dass man dadurch Problembewusstsein zeigen könne, ohne eine große Diskussion aufzumachen.
Was merken wir uns?
Auf welchen Verwaltungsakt-Begriff im Rahmen der statthaften Klageart zurückzugreifen ist, wird uneinheitlich gesehen. Am besten richten wir uns nach dem Ortsbrauch, um auf der sicheren Seite zu sein.
P.S. Für das Saarland kann ich sagen, dass dort prüfungsamtlich die Auffassung vorherrscht, man habe das SVwVfG anzuwenden. Die oben zitierte und von mir verwendete Saarheim-Formel sei falsch.
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