Folgende Situation in einer mündlichen Prüfung ist nicht völlig unvorstellbar.
Der Prüfer legt den Kandidaten das folgende Bild vor:
(www.n24.de/n24/Nachrichten/Wirtschaft/d/8602452/firmen-duerfen-kopftuecher-verbieten.html, konsultiert am 31.05.2016 um 17.30 Uhr)
Im Anschluss daran fragt er:
„Gibt es an dieser Berichterstattung etwas auszusetzen?“
Kandidat 1: Der in der Berichterstattung gemeinte Gerichtshof hat seinen Sitz nicht in Brüssel, sondern in Luxemburg.
Prüfer: Wie konnte man auf den Gedanken kommen, hier von Brüssel zu sprechen?
Kandidat 1: Weil dort europäische Institutionen wie bspw. die Kommission ihren Sitz haben und das deshalb leicht zu Verwechslungen führen kann.
Prüfer: Gibt es noch eine weitere Ungenauigkeit?
Kandidat 2: Die Firma ist nach § 17 I HGB der Name, unter dem der Kaufmann seine Geschäfte betreibt. Es kann also nicht die Firma das Tragen eines Kopftuchs verbieten, sondern z.B. der Arbeitgeber.
Prüfer: Gibt es noch eine Auffälligkeit?
Kandidat 3: Ja, es gibt noch gar kein Urteil des Gerichtshofs zu dieser Frage. Ich habe in der Zeitung gelesen, dass die Generalanwältin Kokott in ihren Schlussanträgen zu dem Ergebnis eines möglichen Kopftuch-Verbots im Unternehmen gekommen ist. Ob sich die Richter dem anschließen werden, steht noch nicht fest.
Prüfer: Ich nenne Ihnen nun das Aktenzeichen der Rechtssache. Es lautet: C-157/15. Daran knüpft sich meine weitere Frage: Für was steht das „C“ im Aktenzeichen?
Kandidat 4: Das „C“ steht für „Cour de justice“. Damit ist nach Art. 19 I EUV der Gerichtshof gemeint, der Teil des Gerichtshofs der Europäischen Union ist.
Ende der fiktiven Prüfung
Und wer sich jetzt noch mit dem Aufbau des Gerichtshofs der Europäischen Union beschäftigen möchte, kann das hier tun.
Update:
Um 18 Uhr war das oben zitierte Bild nicht mehr online. Stattdessen steht nun ein Video zur Verfügung.
Halt, Sie haben noch die an Kandidat 5 gerichtete (und mit Abstand interessanteste) Frage vergessen: Mal angenommen, das BVerfG hätte diese Rechtsfrage tatsächlich für das deutsche (Verfassungs-)Recht zuvor exakt gegenteilig entschieden – was würde denn, sofern der EuGH erkennt wie von Frau Kokott beantragt, fortan eigentlich in Deutschland „gelten“?
Da hoffe ich für Kandidat 5, dass die Prüfung nach dem 21.06.2016 (10 Uhr) stattfindet. Da wird nämlich das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung In Sachen „OMT-Programm der Europäischen Zentralbank“ verkünden. Dort geht es um die von Ihnen angesprochene Konstellation, dass Bundesverfassungsgericht und Gerichtshof eine Rechtsfrage unterschiedlich beurteilt haben. Bis dahin gibt es nur Meinungen und Sie fragen ja nach dem „gelten“. Wenn man jetzt noch weitere Kandidaten auftreten lassen will, stünde im Saarland § 11 I 2 JAO im Wege, denn nach dieser Vorschrift sollen mehr als fünf Prüflinge nicht zusammen geprüft werden. Dies gilt sogar ganz streng in Rheinland-Pfalz (§ 7 III 1 JAO): „Zu einem Prüfungstermin dürfen nicht mehr als fünf Bewerberinnen und Bewerber geladen werden.“ 🙂
Wie Sie sich schon gedacht haben werden, kann ich als besonders fieser Prüfer diese – zugegebenermaßen nicht ungeschickte und gewisse Grundkenntnisse offenbarende – Antwort nicht durchgehen lassen (zumal in der OMT-Sache doch eher unwahrscheinlich ist, dass das BVerfG erst vorlegt und dann die Antwort des EuGH nicht akzeptiert). Also bitte, Kandidat 5, Sie müssen das jetzt beantworten, sonst geht die Frage zurück an Kandidat 1.
Kandidat 5 ist unterwegs und bittet um eine Äußerungsfrist bis Montag.
Inzwischen hat sich Kandidat 5 wie folgt geäußert:
Ausgangspunkt der Überlegungen muss das Kooperationsverhältnis zwischen BVerfG und EuGH sein. Dieses ist, wie der Beispielsfall zeigt, nicht frei von Spannungen. Maßgeblich ist letzten Endes der Grundsatz, dass das Unionsrecht Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht genießt. Davon macht das BVerfG drei Ausnahmen, die sich mit den Stichworten „Grundrechtskontrolle“, „Ultra-vires-Kontrolle“ und „Verfassungsidentitätskontrolle“ beschreiben lassen. Ob in der (unterstellten) Entscheidung des Gerichtshofs einer dieser drei Ausnahmebereiche einschlägig ist, bedürfte einer eingehenden Prüfung. Ich tendiere dazu, keine dieser Ausnahmen anzunehmen.
Hallo!
Tolle, informative und examenswichtige Informationen!
Weiter so!
Danke!
Hallo Kevin, solche aufmunternden Worte hört man gerne. Danke!
Mit dem Wohlwollen, das mir als strengem, aber gerechten Prüfer eigen ist, kann ich die Antwort von Kandidat 5 bereits als ausreichende Leistung anerkennen. Deshalb auch von mir ein „Weiter so!“.
Prüfer zu Kandidat 5: Ihre Leistung das letzte Mal konnte ich ja leider nur als ausreichend einstufen. Es freut mich daher, dass wir uns so bald wieder in einer Prüfung zur Notenverbesserung wiedersehen. Heute hat, wie Sie wissen, das Bundesverfassungsgericht in Sachen OMT-Programm der Europäischen Zentralbank entschieden. Sie haben diese Entscheidung sicher aufmerksam zur Kenntnis genommen. Ändert sie etwas an der Antwort, die Sie das letzte Mal gegeben hatten?
Kandidat 5: Meine Antwort lag, was den Anwendungsvorrang des Unionsrechts und die denkbaren Kontrollaspekte auf Seiten des Bundesverfassungsgerichts angeht, doch nicht so ganz neben der Sache. Ich sehe mich insofern durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bestätigt. Ihre Prognose, es sei in der OMT-Sache doch eher unwahrscheinlich, dass das BVerfG erst vorlege und dann die Antwort des EuGH nicht akzeptiere, hat sich jedoch als zutreffend erwiesen. Allerdings sind kritische Bemerkungen des Bundesverfassungsgerichts nicht zu übersehen. So wird festgehalten, dass die Art und Weise richterlicher Rechtskonkretisierung durch den EuGH gewichtigen Einwänden begegnet. Es wird eine adäquate Antwort des Gerichtshofs auf die ihm unterbreitete Frage vermisst, dass die der Europäischen Zentralbank eingeräumte Unabhängigkeit zu einer spürbaren Senkung des demokratischen Legitimationsniveaus ihres Handelns führe und daher Anlass für eine restriktive Auslegung und besonders strikte gerichtliche Kontrolle ihres Mandates sein müsse. Und wenn dann noch die Formel wiederholt wird, dass der Gerichtshof Anspruch auf Fehlertoleranz habe, wird ein gewisser Unmut deutlich.
Prüfer: Eine solche Verstimmung ist eine Sache. Aber ein rechtliches Prüfkriterium sind derartige Unmutsäußerungen denn doch nicht. Hat das Bundesverfassungsgericht außer dieser Kritik dem EuGH vielleicht noch etwas ins Stammbuch geschrieben?
Kandidat 5: Man könnte meinen, dass das Bundesverfassungsgericht der EuGH-Entscheidung, die auf seine Vorlage hin ergangen ist, eine eigene bindende Interpretation beilegen wollte. Denn die vom Gerichtshof für das OMT-Programm genannten einschränkenden Konditionen sind nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts rechtsverbindliche Kriterien im strengen Sinne.