Wenn man eine Rechtsprechung im Studium kennenlernt und sich diese dann bis zum Examen verändert, besteht die Gefahr, dass diese Rechtsprechungsänderung übersehen wird. Das ist gewissermaßen der „Fluch des Gelernten“. Um dieser Gefahr entgegenzuwirken, soll heute auf eine zentrale Rechtsprechungsänderung des BGH aufmerksam gemacht werden, die für zahlreiche Examensklausuren praktische Bedeutung haben kann.
Ausgangspunkt der Überlegungen ist die unstreitige Feststellung, dass psychische Störungen von Krankheitswert eine Gesundheitsverletzung iSd § 823 Abs. 1 BGB darstellen können. In Bezug auf die sog. Schockschäden hatte der BGH bislang folgende Einschränkung formuliert:
Danach begründen seelische Erschütterungen wie Trauer oder seelischer Schmerz, denen Betroffene beim Tod oder einer schweren Verletzung eines Angehörigen erfahrungsgemäß ausgesetzt sind, auch dann nicht ohne Weiteres eine Gesundheitsverletzung iSd § 823 I BGB, wenn sie von Störungen der physiologischen Abläufe begleitet werden und für die körperliche Befindlichkeit medizinisch relevant sind. […] Psychische Beeinträchtigungen können in diesen Fällen deshalb nur dann als Gesundheitsverletzung iSd § 823 I BGB angesehen werden, wenn sie pathologisch fassbar sind und über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgehen, denen Betroffene beim Tod oder einer schweren Verletzung eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt sind.
BGH, Urt. v. 21.05.2019, VI ZR 299/17, juris Rn. 7
Hier wurden also zwei Voraussetzungen postuliert, die kumulativ gegeben sein müssen:
- pathologische Fassbarkeit
- Überschreiten der Beeinträchtigungen, denen Betroffene beim Tod oder einer schweren Verletzung eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt sind.
Von dieser Rechtsprechung hat sich der BGH Ende 2022 verabschiedet:
Bei sogenannten „Schockschäden“ stellt – wie im Falle einer unmittelbaren Beeinträchtigung – eine psychische Störung von Krankheitswert eine Gesundheitsverletzung iSd § 823 I BGB dar, auch wenn sie beim Geschädigten mittelbar durch die Verletzung eines Rechtsgutes bei einem Dritten verursacht wurde. Ist die psychische Beeinträchtigung pathologisch fassbar, hat sie also Krankheitswert, ist für die Bejahung einer Gesundheitsverletzung nicht erforderlich, dass die Störung über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgeht, denen Betroffene bei der Verletzung eines Rechtsgutes eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt sind.
BGH, Urt. v. 06.12.2022, VI ZR 168/21, juris Rn. 14
Damit kommt es nur noch auf die pathologische Fassbarkeit an.
Wenn man diese Rechtsprechungsänderung in einer Klausur darstellen kann, dürfte man damit das Prüfungsamt ganz glücklich machen :-).
Schreibe einen Kommentar